Der Begriff „Ethno“ steht ja für vieles. Und zwar für vieles, das die Wissenschaft, die sich dahinter verbirgt, in einem wirklich fragwürdigen Licht erscheinen lässt. Da werden die Studierenden und Lehrenden als Anhänger einer „aussterbenden Wissenschaft“ bezeichnet, als „Idealisten“ und „Träumer“ belächelt, nicht ernst genommen und vom Mainstream mit einem „Auch du wirst irgendwann erwachsen“ auf den Kopf getätschelt.
Kein Wunder, wenn man sich mal umblickt, was unter dem Begriff „Ethno“ in der Öffentlichkeit angepriesen wird.
Ich habe mal aus Neugier den Begriff gegoogelt. Die Suchmaschine spuckte an die 12,8 Millionen Ergebnisse heraus.
Und was kommt da als Erstes? Ein Artikel über „Ethno-Look“.
Ok, gleich als nächstes kann man sich den Dudeneintrag durchlesen, aus dessen Beschreibung wird man auch nicht wirklich so schlau. Viele Links führen zu Webseiten, die mit dem Begriff Kram, genannt „Fashion“, aus Ländern des globalen Südens anbieten. (Obwohl, was das Thema angeht, da bin ich selbst, wiederholt Ethnohosen-Tragende in einem Dilemma, das ich für mich noch nicht befriedigend gelöst habe…*workinprocess*.)
Im Allgemeinen hat mensch also, sobald er das Wort „Ethno“ hört, Assoziationen mit Bildern aus der Fashionista-Hippie-Popkultur – wir tanzen barfuss mit Blumen im Haar und auf den Klamotten, behangen mit Ethno-Schmuck zu psychedelischen, mit traditionellen Instrumenten aus Irgendwo-im-Afrika-Klängen in den Tag hinein und haben keinen Plan von den „wirklichen“ Problemen dieser Welt.
Nun, heute will ich dieses Bild, das bestimmt öfters ins Schwarze trifft (aber eben nicht nur! – um ein paar (weltbedeutende!) Facetten erweitern und euch „Ethno“-Begriffe vorstellen, die jenseits von Hippies und Fashionistas anzutreffen sind und mit denen die Ethnologie arbeitet.
Lest es mal durch, vielleicht erlebt ihr dann einen „Aha!“-Effekt und könnt nächstes Mal, wenn etwas als „Voll Ethno!“ angepriesen wird, tollkühn ein „Ja, aber eigentlich ist das noch nicht alles…!“ einwerfen und mit folgendem Wissen glänzen 😉
ETHNIE_
Das Wort „Ethnie“ kommt aus dem Griechischen „ethnos“ und bedeutete „Volk, Nation“. Genauer: Eine „Gruppe von Personen, die derselben Kultur angehören (die die gleiche Sprache, Bräuche etc. haben) und sich dessen auch bewußt sind.“ Ein anderer Begriff dafür ist „ethnische Gruppe“.
Wie so oft in den Geisteswissenschaften liegt die Problematik bei Verwendung von bestimmten Begriffen darin, dass sie von jedem Autor und jeder Autorin anders definiert werden können – und auch werden.
Der Begriff „Ethnie“ wurde eingeführt, um die negativ konnotierten Begriffe wie „Stamm“ und „Rasse“ zu ersetzen.
Der Ethnologe Frank Heidemann definiert den Begriff wie folgt:
„Gemeint ist eine kulturelle bestimmte Einheit, deren Mitgliederzahlen einige Dutzend und einige Millionen umfassen können. Die kulturellen Grenzen müssen dabei keinesfalls den sozialen, politischen oder linguistischen Grenzen entsprechen. (…) Wichtig ist das Bekenntnis zu einer Einheit, die in aller Regel über mindestens eine Eigenbezeichnung verfügt.“
Die Grenzen der ethnischen Gruppen sind dabei also nicht – wie früher üblicherweise auch von Ethnolog_innen (und heute immer noch von vielen in der Bevölkerung) angenommen – starr. Sie sind verhandelbar, oft auch umstritten. Und immer wieder Aushandlungssache.
ETHNO_
Oben habt ihr es bereits schon gesehen: Man nehme den Begriff „Ethno-“ und verbinde ihn mit „Mode“, „Schmuck“, „Musik“ – et voilà, entsteht ein (höchst fragwürdiges) Konglomerat von Sachen und Begriffen, Motto „bedeutet-irgendwas-mit-“volk“-und-sieht-todschick-aus“.
Also, das Handwörterbuch zeigt eine etwas differenziertere Pallette an Bereichen, die „voll ethno“ sind:
Ethnobiologie, Ethnobotanik, Ethnodemographie, Ethnohistorie, Ethnolinguistik, Ethnomedizin, Ethnomineralogie, Ethnomethodologie, Ethnomusikologie, Ethnoökonomie, Ethnopsychiatrie, Ethnopsychologie, Ethnosoziologie, Ethnozoologie, etc.
Nimmt man also den Begriff „Ethno-“ und setzt ihn vor eine andere Wissenschaft et voilà, es entsteht ein immens großes Spektrum dessen, womit sich Ethnologie befasst.
Ihr sieht, es gibt (fast) nichts, wo Ethnolog_innen sich nicht mit ihren Fragestellungen und Interessensgebieten einbringen könnten und ihre (selbst-) kritischen, (selbst-)reflektierenden Gedanken und Meinungen äußern.
Ethnologie definiert sich nämlich schon lange nicht mehr über Forschungs-Gegenstand, sondern eher über die Forschungs-Perspektive.
ETHNO_GRAPHIE
„Ethnographie“ heißt eigentlich „Beschreibung eines Volkes“. Mit Ethnographien entstand sozusagen das Fach Ethnologie. Die Ethnologen (und später auch Ethnologinnen) erforschten die ihnen unbekannten Menschengruppen außerhalb ihres eigenen Kulturraumes.
Ethnographie ist also eine „Feldforschung in menschlichen Gruppen samt deren Beschreibung und Analyse (…) mit dem Ziel einer möglichst getreuen Rekonstruktion der verschiedenen Aspekte (ökologische, technologische, ökonomische, politische, rechtliche, religiöse, familiale, etc.) des Lebens jeder dieser Gruppen.“
Früher war diese Arbeit auf sogenannte „primitive“ Gesellschaften begrenzt. Heute kann es auf alle menschlichen Gruppen ausgedehnt werden, die eine Gesellschaft bietet.
So etwa können Ethnolog_innen Gruppen wie „Gothics“, Schieß- oder Schrebergarten-Vereinsmitglieder, die Berufsgruppe der Schausteller und Zirkusmenschen unter die Lupe nehmen, und und und.
ETHNO_LOGIE
Puh. Wenn ich das Fach so schnell erklären könnte, bräuchte ich hierfür keinen Blog. Ich halte mich also ganz taschenwörterbuchkurz.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnete man damit die Gesamtheit jener Sozialwissenschaften, die sogenannte „primitive“ Gesellschaften und den prähistorischen Menschen erforschten. Heute wird hierfür eher das Wort Anthropologie verwendet. Die Ethnologie ist ein Teilbereich davon.
Im Großen und Ganzen befasst sich die Ethnologie mit den Menschen als Kulturwesen.
Es geht u.a. um „Probleme der Diffusion der Kulturkontakte, der Ursprungsfragen sowie der Rekonstruktion der Vergangenheit.“ Der Fokus in der Ethnologie liegt also nicht auf einem Einzelnen, sondern eher auf dem Menschen als Gruppenwesen.
Und nun noch ein paar Begriffe ambivalenter Natur.
ETHNO_ZENTRISMUS
Ethnozentrismus ist eine „Einstellung der Mitglieder einer Gesellschaft, die alle Sozialphänomene auf der ihnen bekannten zurückführen oder ihre Kultur als die beste und jeder anderen vorzuziehende schätzen. Der Ethnozentrismus kann als ein universales Phänomen angesehen werden, aber er hat in einigen Gesellschaften, wie besonders in unserer, eine aktivistische und eroberungslustige Erscheinungsform angenommen, die sich, nur durch den Eindruck unserer technischen Überlegenheit gerechtfertigt, zum Schaden anderer Völker in Form des Rassismus auswirkt.“
Bemerkenswert, nicht wahr? Eine jede Wir-Gruppe legt solch ein (Selbst-)Verständnis an den Tag. Wenn die Menschen sich selbst als den Mittelpunkt des Universums verstehen, dann sind sie zum Beispiel „anthropozentristisch“. Nix Neues irgendwie. Und zunächst mal ist es auch weder gut noch schlecht. Sondern: „ist so“. „Gut“ oder „schlecht“ wird es erst, wenn wir anfangen, dieses (Selbst-)Verständnis zu instrumentalisieren, oder als eine Begründung wahrzunehmen, um die „Anderen“ abzuwerten, zu diskriminieren, ihnen Land und Leben wegzunehmen, etc.
Gab’s auch alles schon…und existiert auch heute noch.
Und by the way: Auch der Großteil der abendländischen Wissenschaften ist ethnozentrisch. Das Fach Ethnologie war es übrigens auch. Mit der Betonung auf „war“.
Ich sage nur (und das ist jetzt wichtig): Selbsterkenntnis. Die ist nämlich der erste Schritt zur Besserung. Und die Ethnologie hat den Eurozentrismus in ihrer Mitte meiner Meinung nach schon seit längerer Zeit erkannt. Sie setzt sich mit ihrer Vergangenheit auseinander und ist daher in der Tat in der Lage, die aktuellen politischen, religiösen und sonstwie-motivierten Geschehnisse zu analysieren und zur Deeskalation so mancher hitziger Debatten beizutragen.
ETHNO_ZID
Die Erklärung im Taschenwörterbuch dazu lautet: „Vor kurzem eingeführtes Wort zur Beachtung eines einer Kultur durch eine andere, stärkere Kultur gewaltsam aufgezwungenen Akkulturations-Prozesses, wenn dieser zur Auflösung der sozialen Werte und traditionellen Moral der beherrschten Gesellschaft, und damit zu ihrem Verfall und letztlichem Verschwinden führt. Der Ethnozid wurde und wird heute noch oft von Gesellschaften des industriellen Typs zu dem Zwecke angewandt, sogenannte „primitive“ oder „rückständige Gesellschaften zu assimilieren, zu befrieden oder umzuformen. Dies geschieht meist unter dem Deckmantel der Moral, des Fortschrittsideals oder der „Unabwendbarkeit der Entwicklung“.
Das klingt hart, klingt nach Genozid – und ist es auf eine gewisse Art und Weise auch.
Denn auch der Ethnozid bedeutet Vernichtung, nur eben keine physische, sondern die der kulturellen Identität der Betroffenen. Beispiele hierfür gibt es in Mexiko, in Brasilien auch in Ländern der ehemaligen UdSSR zu genüge. Wer will, möge sich gezielt informieren.
An dieser Stelle mache ich einen Cut. Und hoffe, ihr nehmt die Informationen mit und seid das nächste Mal, wenn’s heißt „voll ethno!“ um einiges sensibilisierter.
Viel Erfolg und viel Spass 🙂
Literatur:
Heidemann, Frank (2011). Ethnologie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Panoff, Michel & Perrin, Michel (2000). Taschenwörterbuch der Ethnologie. Berlin: Reimer
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