Neben unseren eigenen persönlichen Erinnerungen leben wir Menschen auch von den Erinnerungen, die wir als Gemeinschaft in unserer Mensch- heitsgeschichte gemacht haben. Unser kollektives Gedächtnis, das unsere kulturellen Werte und historischen Wurzeln bewahrt, ist auf vielfältige Weise präsent. Wir finden es in Bibliotheken, in Museen – aufgeschrieben und -gezeichnet, festgehalten zu unser aller Erinnerung. Aber es gibt noch eine ganz andere Form der kollektiven Erinnerung, die allerdings in unse- rer Kultur nicht sehr verbreitet ist: der Besessenheitskult.
„Was“, werden Sie sich vielleicht skeptisch fragen, „haben Besessenheitskulte mit kulturellem Gedächtnis zu tun?“ Auf den ersten Blick – gar nichts. Der Blick hinter die vordergründige Fassade offenbart aber: Besessenheitskulte sind Stätten der Erinnerung und ein Beispiel, wie im Medium „Mensch“ die Geschichte einer Kultur archiviert wird.
Wenn wir an Besessenheitskulte denken, dann denken wir automatisch an „primitive Kulturen“, fernab unserer westlich-europäischen Heimat. Vor unserem inneren Auge tauchen sodann Bilder von Menschen, die in ihrem vermeintlichen Glauben, von Geistern besessen zu sein, tanzen, die Augen verdrehen und Unverständliches murmeln. Vor unserem inneren Ohr erklingen „wilde, animalische“ Trommelrhythmen. Neben dem exotisierenden Aspekt des „Oh, wie entzückend! Die glauben ja noch an Geister“ – kommen die Vorurteile. Das seien ja archaische, primitive Rituale, heißt es hier und „Alles Aberglaube!“ dort, gefolgt von dem Drang, ein empörtes „Die gehören mal aufgeklärt! Geister gibt’s nicht!“ zu rufen oder wiederholt ein paar eifrige Missionare zu schicken und „denen den Teufel“ auszutreiben, auf dass sie „auf den rechten Pfad Gottes“ zurückkehren mögen.
Doch widersteht man dem ersten Impuls – nämlich das Unbekannte, das „Wilde“ durch unsere eurozentrische Brille zu betrachten und das heißt auch: unreflektiert an den falsch transportierten Klischees festzuhalten und wagt, auch mal hinter die Fassaden zu blicken, dann kommt die Erkenntnis und man ist hinterher schlauer, wenn nicht gar: erleuchteter.
Ich möchte dies veranschaulichen am Beispiel der Besessenheitskulte, die übrigens nicht nur in vielen Gesellschaften Afrikas vorkommen, sondern auf der ganzen Welt: Asien, den Karibischen Inseln aber auch in New York, Toronto oder in europäischen Großstädten wie Köln.
Denn hinter dem vermeintlichen „exotischen Aberglauben“ steckt mehr: In Besessenheitskulten werden zum einen bestehende Gesellschafts- und Herrschaftsordnungen thematisiert, hinterfragt und kritisiert, und zum anderen wird kulturelles Gedächtnis archiviert.
Doch zunächst mal: Was sind Besessenheitskulte? Die Anhänger der Besessenheitskulte glauben an die Existenz von Geistwesen. Wird der Mensch von einem als „böse“ verstandenen Geist besessen, so müssen für den Betroffenen schutzmagische Praktiken durchgeführt werden, bis der Geist versöhnt ist und den Körper wieder verlässt.
Vom Geist der Geschichte besessen
Doch wer oder was sind eigentlich diese Geister? Existieren sie wirklich? In gewisser weise ja, fand der deutsche Ethnologe Fritz Kramer (heraus). Seine Interpretation nämlich lautet: Im Leben einer jeden Menschengemeinschaft geschehen oft Ereignisse, die eine so beeindruckende Wirkung auf Menschen ausüben, dass sie wahrhaftig als eine „Macht von außen“ empfunden werden. Er nennt ein solches Ereignis „Passion“, die von einem Menschen Besitz ergreift und vergleicht diesen Akt mit einem obsessiven Hobby, welches man „wie besessen“ ausübt. In verschiedenen Kulturen hingegen personifizierten sich diese Mächte, wurden zu Geistern.
Geister sind also so betrachtet historische Ereignisse in Persona. Auffallend ist – oft treten die Besessenheitskulte nur in bestimmten Teilen der Bevölkerung auf, nämlich in denen am Rande der Mehrheitsgesellschaft. Es sind Gruppen, die diskriminiert oder marginalisiert wurden (und werden): und die Gründe für die Marginalisierung sind vielfältiger Natur: unterschiedlicher sozialer Status, andere Nationalität, aber auch Religion oder Geschlecht.
Der Gnawa-Kult in Marokko zum Beispiel erinnert daran, dass dessen Anhänger (ursprünglich war es der schwarze Teil der marokkanischen Bevölkerung) Nachkommen von Sklaven waren, die während des transatlantischen Sklavenhandels nach Marokko kamen. Ähnlich ist es im Tschamba-Kult in der Gesellschaft der Mina in Togo. Dort werden Menschen von Tschamba-Geistern heimgesucht, den Geistern der ehemaligen Sklaven der Mina. Interessanterweise ist hier nicht die marginalisierte Gruppe der Nachkommen der Sklaven betroffen – die ehemaligen Sklavengeister besitzen die Nachkommen der Sklavenhalter. In anderen Besessenheitskulten im Bori-Kult bei den Hausa erinnern „europäische“ Geister an die (traumatische) Zeit der Kolonialherrschaft in Nigeria.
Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Ob in Marokko, in Togo oder in Nigeria – Besessenheitskulte mit ihren entsprechenden Zeremonien sind eine Form der Kommunikation zwischen den heute Lebenden und ihrer kulturellen Vergangenheit. Wenn ein Geist von einem Menschen Besitz ergreift, übernimmt er die Kontrolle über dessen Körper. Der Besessene ist nicht mehr der Agierende, sondern er wird agiert. Das zeigt sich etwa darin, dass der Betroffene sich plötzlich anders verhält als sonst. Er spricht anders, es kann unverständlich sein, oder auch eine andere Sprache (oder etwas, das so klingt wie eine Sprache).
Den Zuschauern offenbart sich ein faszinierendes bis furchteinflössendes Schauspiel – sie werden Zeugen eines Kampfes „zweier Seelen in einer Brust“. Aber gerade dadurch, so die Interpretation von Kramer, dass der Mensch nicht vollends verschwindet, dass er um die Kontrolle über seinen Körper kämpft, entsteht ein besonderer Raum, in welchem die großen historischen Ereignisse nicht nur einfach wiederholt werden, sondern zur gleichen Zeit kritisch oder auch ironisch kommentiert. Weil Geschichtsschreibung üblicherweise eher einseitig geschah und Geschichtsereignisse aus der Feder von „Herrschenden“ stammten, erkannten Forscher und Ethnographen in Besessenheitskulten eine Alternative, Geschichtsschreibung zu beeinflussen, zu korrigieren. Besessenheitskulte können also als eine Geschichtsschreibung „von unten“ gesehen werden.
Der Körper als Geschichte „in Fleisch und Blut“
In europäischem Kulturraum kennen wir meist nur zwei Formen der Geschichtsarchivierung – nämlich die schriftliche und die orale. Wie also wird vergangenes Kulturgut in Besessenheitskulten archiviert?
Eine essentielle Rolle dabei spielt der menschliche Körper.
Er ist die Oberfläche, die durch die Geister der Vergangenheit „be-schrieben“ wird.
Aber er ist weitaus mehr als, fand der amerikanische Kulturanthropologe Paul Stoller. Er erforschte in den 1980er Jahren den Hauka-Kult bei den Songhay-Gesellschaften in Mali und Niger und war überzeugt, das bloßes Reden und Schreiben Vergangenheit „entkörperlicht“ und die Übermittlung der eigentlichen Botschaft behindert.
Körperpraktiken in Kulten seien essentiell, so Stoller, denn sie zeigen das kulturelle Bewusstsein „in Fleisch und Blut“: „Der menschliche Körper ist kein Text – eher gleicht er einem Gefäß, welches mit kulturell spezifischen Gerüchen, Sichtweisen, Geräuschen und Geschmäckern gefüllt ist. Und sie alle lösen kollektive Erinnerungen aus.“
In dem Augenblick, in dem der Besessene die Besessenheit „performt“, verkörpert die Geschichte seiner Kultur – und tut dies auf vielerlei Arten: in Bewegung, Geste, Geräusch oder Geruch. Das Erklingen einer bestimmten Melodie oder eines Rhythmus hat zur Folge, dass der Blick zu strahlen beginnt oder eine bestimmte Körperhaltung eingenommen wird. Das Verbrennen bestimmter Kräuter zieht in die Nase und weckt Assoziationen hervor – roch es früher bei unseren Ahnen ebenfalls so, als sie dieselben Rituale durchführten?
All diese körperlichen Praktiken sind der Speicher für die gemeinschaftliche kulturelle Erinnerung. Es ist Vergangenheit, im Körper sedimentiert.
Dieser Artikel erschien im Magazin „heute leben“ (Januar 2014).