Erleichtert und leicht müde schließt Christiana den Koffer zu. Endlich geschafft. Alles ist gepackt. Morgen geht es los, zurück in die Heimat, zurück nach Deutschland. Ein mehrmonatiger Forschungsaufenthalt geht damit zu Ende. Fast ein Jahr lang haben sie und ihr Mann nun bei den Wampar, einem indigenen Volk in Papua Neuguinea gelebt und geforscht.
Plötzlich klopft es an der Tür.
„Wir haben lange überlegt und möchten euch ein Angebot machen“, sagt Scrootoh, ein Dorfbewohner. „Wir möchten euch anbieten, zu bleiben. Wir haben ein kleines Stück Land, das wir euch gerne überlassen möchten. Dort ihr ein kleines Häuschen errichten und auch eigenes Gemüse anbauen.“
„Wie kommt ihr bitte denn auf diese Idee?“, antworten Christiana und ihr Mann überrascht.
„Wir haben Mitleid“, antwortet Scrootoh. „Sonst müsst ihr ja wieder ihr in eure karge, wirklich unterentwickelte Heimat zurück!“
Ethnozentrismus - wenn du die Welt der Anderen durch deine Brille siehst
Christiana und ihr Mann sind soeben Zeugen (oder soll ich eher sagen: Opfer?) eines Phänomens geworden, das allgegenwärtig und leider auch sehr allmächtig ist. Im negativen Sinne.
Nämlich dem ethnozentrischen Blick.
Es ist nun mal so: Der Mensch, nennen wir ihn mal Adam, ist ein soziales Wesen. Als solches wird er in eine Welt hineingeboren, die seine Vorfahren bereits erschaffen und gestaltet haben.
Von klein auf lernt Adam, wie die Welt und das Leben in ihr funktioniert.
Er lernt zu sprechen, sich zu kleiden, zu essen und zu trinken. Lernt Regeln und Gesetze, nach denen seine Eltern und Großeltern leben und handeln. Lernt deren Ansichten über Gott und die Welt, über Recht und Ordnung, über richtig und falsch.
Am Ende weiß Adam, wie der Hase so läuft.
(Psst, Spoiler: Er weiß es nur in seiner Welt. Doch das ist ihm nicht bewusst.)
Denn: Solange er sich nur in seiner Welt befindet, mit Menschen aus seiner Gruppe kommuniziert, solange herrscht Einigkeit, Friede, Freude und heiter Sonnenschein.
Trifft er aber auf einen Menschen jenseits seiner Gruppe, dann ist er zunächst einmal verwirrt. Denn der Andere – ist so anders!
Der Andere:
- sieht anders aus,
- drückt sich anders aus,
- kleidet sich auch anders.
Die Verwirrung wird noch größer, wenn Adam nun herausfindet, dass der Andere auch noch komplett nach anderen Regeln und Gesetzen lebt und handelt. Und Ansichten hat, die nun mal ganz und gar nicht seinen bekannten entsprechen.
Völlig entsetzt kehrt Adam zu seiner Gruppe zurück und erzählt, dass er einen verwirrten, verrückten Fremden getroffen hat, der wirres Zeug spricht, seltsam gekleidet ist und völlig abstruse Ansichten über Gott und die Welt anhängt.
Kurz: Adam betrachtet den Anderen aus seinem Blick heraus, der geprägt ist durch seine Kultur. Darüber hinaus tut er aber noch etwas anderes: Er beurteilt und bewertet den Anderen (sein Aussehen und sein Verhalten) aus der Position dessen heraus, was in seiner eigenen Kultur als Standard und „normal“ gilt. Dabei wird das Wörtchen „anders“ oftmals leider mit „schlecht“, „sonderbar“, „unnormal“ gleichgesetzt.
Und diese Sichtweise nennt man
Zurück zu Christiana und ihrem Mann. Das Angebot der Dorfbewohner, doch lieber bei ihnen zu bleiben statt nach Deutschland zurück zu kehren, kam aus ihrer ethnozentrischen Sicht auf Deutschland. Christiana schreibt, es war „schlichtweg Mitleid mit uns, die wir nun wieder unser Leben in einer Region zu fristen hatten, die den Wampar nicht sonderlich attraktiv erschien: Winterliche Kälte, Armut an sozialen Beziehungen, Leben in Häusern, die fremden Menschen gehören, fremdbestimmte und auf die Minuten genau geregelte Arbeit sowie Mangel an Land für den Anbau eigener Nahrungsmittel waren nur einige Merkmale, die sie uns prophezeihten. Aus der Sicht der Wampar kehrten wir in ein in vieler Hinsicht unterentwickeltes Land zurück.“ (aus: Christiana Lütkes und Monika Klüter, 1995: Der Blick auf fremde Kulturen. S. 9)
Was ist Ethnozentrismus?
Eine der ersten Definitionen dieses Phänomens lautet:
Ethnozentrismus sei eine
„Weltanschauung, nach der die eigene Gruppe das Zentrum aller Dinge ist und alle anderen im Hinblick auf sie einstuft und bewertet.“ (Summer 1906)
Jede Kultur (=eine Wir-Gruppe) hat ihr eigenes Weltbild und ihre eigene Weltsicht erschaffen.
An diesem Weltbild misst sie alle anderen Menschen und deren Kulturen. Durch diese – ihre eigene – Weltsicht blickt sie auf andere.
Gefahren von Ethnozentrismus
Eins vorab:
Wir alle haben es.
Wir alle haben einen ethnozentrischen Blick auf die Welt.
Warum?
Weil das anfangs gar nicht anders geht. Weil wir zu Beginn eben nur unsere eigene Kultur und unsere Weltanschauung kennen. Wir werden nun mal in sie hineingeboren und in ihr erzogen.
Doch was mit dieser Sichtweise eben auch einher geht, ist die Annahme, dass die eigene Art, die Welt zu sehen, die eigenen Regeln und Gesetze, nach denen man lebt, für die einzig richtigen gehalten werden.
Problematisch an der ganzen Geschichte ist, dass uns diese ethnozentrische Sichtweise gar nicht bewusst ist, eben weil wir ja in sie hineingeboren wurden und sie sozusagen mit der Muttermilch aufgesaugt haben.
Wo lauert Ethnozentrismus? Tatorte unter der Lupe
Weil uns die ethnozentrische Sichtweise nicht bewusst ist, finden wir sie daher überall:
- in Alltagsgesprächen, wenn wir uns über die „arbeitsscheuen“ Ausländer beschweren,
- auf Plakaten von Hilfsorganisationen, die mit „armen Kindern in Afrika“ um Gelder werben
- oder in den Medien, die „mal wieder“ ein erfolgreiches Entwicklungshilfe-Paket nach – na, wohin? Genau, nach Afrika gebracht haben.
Doch leider auch dort, wo unser Bildungsweg beginnt, nämlich an den Schulen, macht der ethnozentrische Blick auf die anderen, „fremden“ Kulturen keinen Halt, verursacht großen Schaden in den Köpfen unserer Kinder und lässt das üble Gespenst namens Ethnozentrismus weiterhin grassieren.
Denn auch dort, etwa in Erdkundebüchern, liegt der Fokus auf der Aufteilung der Welt in „entwickelte“ und „unterentwickelte“ Länder.
Doch fragt überhaupt irgendjemand nach, was unter „entwickelt“ verstanden wird und warum diese „Entwicklung“ nun als universell gültig und erstrebenswert für alle Länder dieser Welt sein soll? Nope.
Es sollen bitte alle schön danach streben, wirtschaftlich zu wachsen und Geld und Güter anzuhäufen, denn das gilt doch als das Lebensziel schlechthin, nicht wahr?
Was tun? Wege aus den ethnozentrischen Scheuklappen
Um Ethnozentrismus einigermaßen die Stirn bieten zu können, ist es zuallererst vonnöten:
- Sich dessen bewusst zu werden, dass deine Sicht auf die Welt nur eine ist von vielen!
Wie gesagt, anfangs können wir gar nicht anders als ethnozentrisch auf unsere Umwelt zu schauen und Dinge, Sachverhalte und Menschen danach zu bewerten, was in unserer eigenen Kultur nun mal Standard ist.
Doch sobald wir in Kontakt mit Menschen aus anderen Kulturen treten und merken, hoppla, da bei ihnen läuft es ja ganz anders als bei uns, ist es wichtig, kurz inne zu halten und sich zu fragen:
- Warum ist es bei ihnen so anders als bei uns?
- Welche tieferen Gründe können hinter deren Verhaltensweisen und Reaktionen sein?
- Und: Warum ist es bei uns so anders als bei ihnen?
Wenn du das in Erfahrung gebracht hast, dieses Warum, dann wirst du mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit den einen oder anderen Aha-Moment erleben und noch mehr: Du wirst den anderen besser
V E R S T E H E N.
Aber wie geht das denn - die anderen VERSTEHEN...?
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