Krisen. Wer hat die nicht. Uns allen allzu geläufig und bestens bekannt.
Nicht nur, dass wir tagtäglich von persönlichen Krisen heimgesucht werden – Arbeit weg, zu viel der Arbeit, Partnerschaft zerbröselt, Wohnung und/oder Körper zu klein zu groß, etc.- nein, auch die Medien verschonen uns nicht davor, uns ständig mit aktuellen Krisenherden zu versorgen (Stichwort Finanz- und Bankenkrisen, arabischer Frühling, Ukraine, Flüchtlingsdramen, Klimawandel, ISIS, Volkswagen…).
Auch in der Ethnologie befasst man sich mit verschiedenen Formen und Ausprägungen von Krisen. Aber der Reihe nach.
KRISE – DEFINITION
Laut Lexikon bedeutet die „KRISE“ eine
- „über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems“ (Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das POLITLEXIKON. 5., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2011.)
- „schwierige Lage, Situation, Zeit [die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt]; Schwierigkeit, kritische Situation; Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins (Quelle: DUDEN)
- „problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation“ (Quelle: WIKIPEDIA)
aber AUCH:
- „die Chance zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung.“ (Quelle: DUDEN)
IM KLARTEXT ALSO…
Krisen stellen Sicherheiten und Routinen infrage und bergen in sich Wandel und Transformation. Sie verweisen auf das Aufbrechen von bestehenden Ordnungen ( sozialen wie kognitiven), sie markieren Wendepunkte und signalisieren den möglichen Beginn neuer Epochen.
Oft fordern Krisen Entscheidungen, die unter Bedingungen von Unsicherheit und existentieller Bedrohung gefällt werden müssen. Ob ökonomische, ökologische, politische oder humanitäre Krisen, sie alle können Ausdruck individueller Lebensbrüche oder aber kollektiver Wendepunkte von Gesellschaften sein.
Und nicht zuletzt: Krisen beinhalten aber immer auch Chancen und Potential für dynamische Entwicklungen und die Überwindung bestehender Verhältnisse.
ETHNOLOGIE DER KRISE
Unter den Titel „KRISEN. Re-Formationen von Leben, Macht und Welt“ steht die diesjährige Tagung der Gesellschaft für Völkerkunde (DGV), die vom 30.09 bis 04.10 in Marburg stattfindet.
In der Ethnologie nimmt man die Vielfalt der Krisen in den Blick und stellt Fragen wie:
- Wie werden Krisen in unterschiedlichen regionalen und soziokulturellen Kontexten wahrgenommen?
- Mit welchen kulturell und historisch unterschiedlichen Ursachen, Deutungen und Folgen werden sie verknüpft?
- Wie werden sie individuell und kollektiv bedeutsam, diskursiv verhandelt und handlungspraktisch relevant?
- Auf welche Konzepte und Handlungsoptionen wird dabei verwiesen, welche ontologischen Axiome, Wahrnehmungen und Lösungsvorschläge werden verstärkt, in Frage gestellt oder obsolet?
- Welche neuen Deutungsmuster und sozialen Ordnungen gehen aus Krisen hervor?
- Inwieweit werden Formen der Modernität als Krise der Moderne und ihrer Versprechungen thematisiert und verstanden?
Die DGV-Tagung 2015 lädt also dazu ein, das Phänomen der „Krisen“ aus unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven zu betrachten und die Relevanz einer Ethnologie der Krise für ein vertieftes Verständnis aktueller und historischer Krisen zu erkunden. Sie schlägt vor, zu erforschen, wie in Krisen Re-Formationen von Leben, Macht und Welt verhandelt und durchgesetzt werden.
In insgesamt 53 Workshops erörtern die Teilnehmer_innen Aspekte wie:
- Inwieweit verändern sie soziale Lebensbedingungen, die technologischen, ökologischen und kognitiven Voraussetzungen für die Reproduktion von Leben und wie transformieren sich die Konzeptionen des Lebendigen und damit jene zwischen Subjekt und Ding, Natur und Gesellschaft?
- Welche „Mächte“ werden in Krisen beschworen, bekämpft und überwunden und welche Machtverhältnisse transformiert, etabliert und durchgesetzt?
- Wie werden Konzeptionen der Welt durch Krisen und Krisenszenarien in Frage gestellt und zu welchen neuen Wahrnehmungsformen tragen sie bei?
- Mit welchen Vorstellungen, Narrativen und Ritualen stehen solche Re-Formationen in Verbindung?
- Zu welcher Diagnose der Welt kommt die deutschsprachige Ethnologie unter dieser Perspektive?
- Was sagt dies über ihre eigenen Potentiale und ihre Fähigkeit reformierte Perspektiven auf die Welt zu entwickeln?
WORKSHOPS, IN ALLER KÜRZE
Wie vielfältig die Auseinandersetzung mit dem Begriff KRISE, mit Krisen allgemein sein kann, zeigt das breite Angebot an Workshops:
- The concept of crisis and the permanent state of exception (Judith Beyer)
- Die Last der Vergangenheit. Transgenerationale Wirksamkeit von Krisen (Maria Six-Hohenbalken in Kooperation mit Elise Richter Scholar)
- Zwischen Imitation und Intervention. (Re-) Konfigurationen und Kontingenz krisenhafter Staatlichkeit (Christoph Kohl und Oliver Tappe in Kooperation mit Patrice Ladwig)
- Countering the crisis: controlling change in contemporary cities? (Christoph Brumann and Katja Werthmann)
- Crises and alternatives: ethnographies of hope in the age of capital (Daniel Münster)
- Angewandte Ethnologie (Sabine Klocke-Daffa // Diskutant: Thomas Bierschenk)
- Krisenhelfer? Lebensbezüge populärer Kultur (Markus Verne)
- Krisen und Konflikte in der Lehre. Neue fachdidaktische Konzepte (Stéphane Voell in Kooperation mit Thorsten Bonacker)
- Alltagsleben in der Krise. Perspektiven aus der Europäischen Ethnologie (Manfred Seifert)
- Das Friedenspotential des Lokalen in Gewaltkonflikten. Ethnologische Beiträge zur Friedensforschung (Philipp Naucke und Birgit Bräuchler)
- Krisen/Zeit. Krisenhaftigkeit und Temporalität im Nachen und Mittleren Osten und Nordafrika (RG Naher und Mittlerer Osten und Nordafrika, Katharina Lange)
- Krisenproteste. Ethnologische Perspektiven (Ingo W. Schröder)
- Facetten des Krieges. Soziale und kulturelle Folgen von Gewalt und Konflikt nach 1991 (Magnus Treiber in Kooperation mit Hartmut Quehl)
- Protestkulturen in Zeiten von Krisen (Sandrine Gukelberger in Kooperation mit Eva Gerharz)
- Alternative Wissensmodelle als Kritik an epistemologischen Machtstrukturen (Anna Meiser)
- Hexenjagd als soziale Klasse (Felix Riedel)
- Konkrete Utopien und emanzipatorische Projekte in Lateinamerika (Falko Zemmrich in Kooperation mit Josef Drexler)
- Der Ressourcenboom und seine Folgen. Rekonfigurierungen (Rekonfigurationen?) von Landschaften, Territorien und symbolischen Bezugssystemen (Karin M. Naase in Kooperation mit Carsten Wergin)
- Food Crises, globalization and urban agriculture (Nikolaus Schareika in cooperation with Imogen Bellwood-Howard)
- Ernährungskulturen in der Krise. Authentizität und Krise in der kulinarischen Ethnologie (AG Kulinarische Ethnologie // Daniel Kofahl, Bettina Mann und Sebastian Schellhaas)
- Müll in der Krise. Praktiken, Potentiale und Probleme (Saskia Walther und Rebecca Hofmann)
- Veränderung der natürlichen Umwelt. Soziale Auswirkungen, Handlungsräume, Interaktionen (RG Südostasien // Susanne Rodemeier und Kristina Großmann)
- The making and unmaking of „crises“ and „emergencies“ in global health (AG Medical Anthropology // Dominik Mattes and Hansjörg Dilger)
- Klima in der Krise. Multiple Antworten auf ein allgegenwärtiges Problem (Lioba Rossbach de Olmos)
- Menschenrechtliche Krisen – Krise der Menschenrechte? (Sabine Mannitz)
- Würde als ethisches Leitprinzip: nur für Menschen? Überlegungen aus interkultureller Perspektive (AG Ethik (Annette Hornbacher und Manuel Rauchholz)
- Migration as crisis, so what? (AG Migration, Multikulturalität und Identität // Tilman Heil, Caroline Leutloff-Grandits and Christian Peter Oehmichen)
- Crisis of citizenship and migration? African mobilities in a globalized world (RG Afrika // Tilo Grätz and Michaela Pelican)
- Crises in and of life-crisis rituals in South and Southeast Asia (Miriam Benteler in cooperation with Benjamin Baumann)
- Zeitenwende? Krisen als Element religiöser Entwürfe von Welt und Gesellschaft (Astrid Bochow und Eva Spies)
- Krisen, Mythen, Rituale (Elke Mader in Kooperation mit Ulrike Davis-Sulikowski)
- Gerechtigkeits-Gefühle. Zur emotionalen Re-Formation nach Krisen und Konflikten (Olaf Zenker und Jonas Bens)
- Krise – Trance – Medien (RG Mittelmeerraum // Anja Dreschke, Dieter Haller, Michaela Schäuble, Martin Zillinger)
- Multi-religious places: when shared sacred sites are (not) contested (Volker Gottowik in cooperation with Nurit Stadler)
- Schamanische Wege in Situationen der Krise. Rituale – Diskurse – Materialistinnen (Dagmar Schweitzer der Palacios und Ulrike Bieker)
- 500 Jahre Über-Leben in der Dauerkrise. Indigener Widerstand in den Amerikas heute (RG Indigenes Nordamerika // Markus Lindner und Susanne Jauernig; RG Mesoamerika // Antje Gunsenheimer; RG Südamerika // Michael Kraus und Anne Goletz)
- Das afrikanische Erbe in den Amerikas. Soziale Positionierung und Neuverhandlung (post-)kolonialer Ordnungen (RG Afroamerika // Heike Drotbohm und Claudia Rauhut)
- Crises and critical junctures: reimagining Oceania (RG Ozeanien // Philipp Schorch and Arno Pascht in cooperation with Jonathan Ritchie
- Socio-economic and moral blueprints on the rise: Euro-Mediterranean comparisons (RG Europa // Jelena Tosi´c)
- Der Umgang mit Wandel in Indien (RG Südasien // Ulrich Oberdiek)
- Departures in the Circumpolar North and Siberia (RG Zirkumpolargebiete und Sibirien // Gerti Eilmsteiner-Saxinger, Sophie Elixhauser, Joachim Otto Habeck and Verena Traeger)
- Wahrnehmung von Krisen in Südasien. Aushandlungsprozesse des Entscheidend (Helene Basu in Kooperation mit Annika Strauss)
- Alles bleibt anders? Alltag in China (Verena Zimmermann und Hans Steinmüller)
- Bildung in der Krise?! Ethnologie als Grundlage der interkulturellen Kompetenz (AG Ethnologische Bildung // Veronika Ederer)
- Säkulare (Schul-)Bildung in der Krise? (Sektion Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie // Jeannett Martin und Ulrike Schultz)
- (Re-)Formation kognitiver sowie linguistischer Kulturkonzepte. Krise und Chance (AG Kognitive Ethnologie // Christoph Antweiler und Svenja Völkel)
- Dinge, die provozieren; Dinge, die vermitteln. Zur Rolle materieller Kultur in der Entstehung und Überwindung von Krisen (AG Materielle Kultur // Hans Peter Hahn)
- Konflikte musealisieren? Die Institution Museum im Spannungsfeld gesellschaftlicher Krisen (AG Museum // Larissa Förster und Barbara Plankensteiner)
- Bilderkrisen – Krisenbilder (AG Visuelle Anthropologie // Andreas Ackermann)
- Cultural entrepreneurship in times of crisis (Julia Binter und Ute Röschenthaler)
- Mode und Styling in Zeiten von Krisen (Kristin Kastner)
- Lehren, Forschen und Überleben im Exil. Die durch den Nationalsozialismus ab 1933 erzwungene Emigration deutscher und österreichischer Ethnologen (Volker Harms)
- Ethnologische Berufsperspektiven in der Entwicklungszusammenarbeit (AG Entwicklungsethnologie // Frank Bliss)
Am liebsten würde ich alle Workshops besuchen, da es allerdings aus rein physischen Gründen nicht geht, habe ich die Qual der Wahl. Wofür ich mich letztendlich entschieden habe, werdet ihr in Kürze erfahren. Und zwar hier 😉
MEHR INFOS ZUR DGV-TAGUNG (und zur DGV selbst) findet ihr HIER