Auch wenn der enge Kulturbegriff auch heute noch überall Verwendung findet – man schaue nur in die Zeitungen und Magazine – ist er doch, nun ja, nicht das Gelbe vom Ei.
Wir erinnern uns: Ein enger Kulturbegriff suggeriert, dass man in der Lage ist, Gutes vom Schlechten zu unterscheiden. Dass man generell in der Lage sei, zu entscheiden, was denn nun „gut“ und was „schlecht“ sei. Man wähnt sich, zu den „Zivilisierten“ zu gehören, während die „Anderen“ gerade erst von den Bäumen herunter geklettert seien und – nun ja – weder Mozart noch Goethe kennen …
Erschreckend aber wahr: Die ersten massiven politischen Vorbehalte gegen einen engen Kulturbegriff waren, schreibt Jürgen Bolten, erst in den späten 1960er Jahren. Hintergrund: Es war eine Zeit der Umbrüche. Pearl Harbor, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, Flower Power und das Hinterfragen der bisherigen Werte. Die damit einhergehende zunehmende Ablehnung gegen das bestehende Elitedenken führte dazu, dass Menschen sich nicht nur verstärkt auf die Suche nach sich selbst begaben, sondern auch fanden, ein jeder Mensch sei in der Lage, die höchste Version seiner Selbst zu werden – und somit ein jeder ein kulturelles Wesen sei.
„Kultur“ ist nicht mehr Gegensatz von „Natur“
Bei einer solchen Betrachtung von Kultur ist natürlich diese Grenzziehung zwischen „zivilisierten“ Kultur als Gegensatz zur „primitiven“ Natur hinfällig. Denn wenn Kultur als die gesamte Lebenswelt verstanden werden soll, dann geht das nur in Wechselwirkung zur natürlichen Umwelt. Wir können uns nicht frei von unserer Umwelt denken. Kultur ist damit einerseits das Ergebnis von Natur. Und gleichzeitig beeinflusst unsere Kultur die Natur. Wir bauen Häuser, begradigen Flüsse, stellen Staudämme hin, bauen Kohle ab und roden Wälder, usw. usf. Sehr „zivilisierte“ Modifikationen unserer natürlichen Umwelt. (Ironie aus…)
Erweiterter Kulturbegriff. Was’n das?
So hat sich mit der Zeit ein erweiterter Kulturbegriff durchgesetzt. Dieser unterscheidet sich vom engen Kulturbegriff dadurch, das er lebensweltlich orientiert ist. Sprich: Kultur umfasst nicht nur die hohen Künste wie Literatur, Musik, Kunst, Bauwerke, etc., sondern ALLE Lebensbereiche. So z.B.: Religion, Ethik, Technik, Recht, Bildungssysteme, materielle wie immaterielle Produkte, Umgang mit Umwelt, etc.
Der erweiterte Kulturbegriff hat eindeutige Vorteile: Einerseits ist er weniger ausgrenzend. Ein Irgendjemand kann sich nicht mehr naserümpfend von einem marrokanischen Bauern abwenden, weil dieser noch nie die Zauberflöte gehört hat. Dafür aber mit Bewunderung feststellen, welch hoch komplizierter Prozess eine Waschprozedur in einem marokkanischen Hamam sein kann. Zweifelsohne eine kulturelle Leistung! Andererseits ist der erweiterte Kulturbegriff nicht zeitlos und statisch. Vielmehr ermöglicht er, Dinge in ihrem historischen Kontext zu setzen. Heißt: Manche Sachen, die früher in der Menschheitsgeschichte als gut und richtig galten (z.B. Sklavenhaltung, Hexenverbrennungen, Frauen nicht in die Unis zu schicken…) heute sehr wohl als grundschlecht und absolut falsch gesehen werden können. In diesem Fall ja sogar müssen.
Erweiterter Kulturbegriff unterteilt sich in „geschlossenen“ und „offenen“ Kulturbegriff
Ein erweiterter Kulturbegriff ermöglicht also, die Lebenswelt der Menschen viel umfangreicher und auch viel ganzheitlicher zu beschreiben. Er umfasst nicht nur das, was Menschen an sichtbaren und hörbaren Werken produzieren, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen über bestimmte Sachen denken, woran sie glauben, was sie für richtig oder falsch halten, uvm.
Doch auch dieser ertweiterte Kulturbegriff ist noch mit Vorsicht zu genießen, bietet er doch noch immer zu viel Raum für Abgrenzungen, eigene Auf- und fremde Abwertungen und Missverständnisse. Wir müssen diesen Begriff noch mehr differenzieren.
Gefährlich wird es, wenn man versucht, eine Lebenswelt „räumlich“ abzugrenzen (Stichwort: „Containerdenken“). Denn so schön es auch wäre – stell dir vor, du hättest endlich mal „klare Verhältnisse“ und könntest sagen: „Also hier, liebe Leute, endet die französische Kultur, und da beginnt die deutsche“, so einfach ist es leider (oder zum Glück!) nicht.
Denn: Wir können „Kulturen“ nicht territorial eingrenzen. Warum? Weil Menschen nun mal „Homo Migrans“, Wanderwesen, sind. Und das nicht erst seit die Geflüchteten von 2015 nach Deutschland kamen, sondern schon seit Jahrtausenden von Jahren. Also seit immer. Diese Migrationsbewegungen führten übrigens dazu, dass sich Kulturen schon immer gegenseitig beeinflusst haben. Das merkst du übrigens auf vielerlei Arten: An manchen Worten, Sprichworten, Märchenmotiven, Kleidung, etc. Jede Kultur ist somit ein Produkt vieler interkultureller Prozesse seit Jahrtausenden von Jahren. Es gibt also keine rein deutsche Kultur. Sorry tut mir leid, aber wir sind alle Mischwesen. Ohne wenn und aber.
Der „geschlossene“ Kulturbegriff
Ist räumlich fixiert und eingegrenzt. Heißt, man versucht, Menschen und ihre Kulturen an geographische Grenzen zu binden. Die französische Kultur, „Do’s“ und „Don’ts“ in Japan, die Empfehlungen, in arabischen Ländern nie die linke Hand zur Begrüßung zu reichen – aus pragmatischen Gründen werden solche Kulturbegriffe noch immer verwendet.
Ein solcher Kulturbegriff täuscht aber. Den Kulturen sind eben keine in sich geschlossene Lebensräume. Die deutsche Kultur hört nicht abrupt an der französischen Grenze auf. Oder an der holländischen, österreichischen, tschechischen. Sondern da sind die Übergänge fließend. In beiden Ländern sprechen die Menschen beide Sprachen, haben Verwandte sowohl da als auch hier, haben Bräuche die sich ähneln, weil voneinander irgendwann übernommen (Wer wann von wem ist meist dann nicht mehr nachvollziehbar, aber ist es nicht auch einfach mal egal?)
Du musst dir Kultur also – insbesondere an geographischen Rändern – mehr „ausgefranst“ und verwischt denken, dann kommst du der Wahrheit ein wenig näher 🙂
Willkommen im Heute! Der „offene“ und soziale(re) Kulturbegriff
Ja, ich weiß. Wir leben in einer sehr komplexen Welt. Wir sehnen uns nach Orientierung. Wir wollen Ordnung haben. Und Struktur! Wir wollen in Schubladen denken.
Doch nix da. So ist unsere Welt nun mal nicht. So einfach. So schwarz weiß. Wir müssen lernen, dieses Schubladendenken aufzugeben, und mehr in Prozessen zu denken.
Kulturen sind soziale Lebenswelten. Und so wie unsere Lebenswelt sich ständig ändert, ändert sich auch unsere Kultur bzw. unsere Vorstellung davon. Wir identifizieren uns immer weniger (nur) durch den Geburtsort, (nur) durch die Nationalität. Viemehr entwickelt das einzelne Subjekt von heute mehrere Zugehörigkeitsgefühle jenseits seiner geographisch-nationalen Herkunft.
Was ist Kultur? Interkulturelle Trainerinnen-Definition
Wie du siehst, Kultur zu beschreiben ist nicht einfach. Das ist es ganz und gar nicht. Aus pragmatischen Gründen jedoch müssen wir dennoch auf die Frage „Was ist denn Kultur?“ eine Antwort geben können. Also fasse ich den Kulturbegriff in meinen interkulturellen Trainings meist so zusammen. (Und oft von „Gänsefüsschen“-Handbewegung begleitet…)
Kultur ist eine von uns Menschen geschaffene Welt – sowohl sichtbare wie unsichtbare Erzeugnisse menschlichen Lebens und Schaffens zählen zur Kultur.
Kultur ist nicht statisch und ist nicht an geographische Grenzen gebunden. Sie verändert sich ständig.
Menschen sind Kulturträger. Aber sie sind nicht nur Produkt ihrer Kultur. Sondern erschaffen sie durch ihre Handlungen immer wieder selbst. Wir Menschen sind nie nur das Ergebnis unserer Kultur(ellen Sozialisation), sondern gleichzeitig auch ihre Macher:innen. Wir erschaffen unsere Kultur. Wir wirken an ihr mit. Wir verändern sie.
So, ich hoffe dir durch diese dreiteilige Reihe über die Geschichte des Kulturbegriffs ein wenig Licht ins Dunkel gebracht zu haben. Hast du Fragen oder Anmerkungen? Dann schreibe mir gerne ein Kommentar.