Das Bild von „unterdrückten“ Frauen in und aus fremden Kulturen begleitet uns jeden Tag. Durch männlich geprägte Forschungen haben sie unsere Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen aus anderswo geprägt. Wie verzerrt diese Darstellungen allerdings sein können, zeigen viele Ethnologinnen durch ihre Arbeiten.

„Ach guck mal, wie schön,“ interessiert beugt sich Sybille über ihrer Zeitschrift und betrachtet die Fotos. Darin: Ein Artikel über Frauen in Indien. „Diese schönen Frauen, und ihre Kleider erst, wow, sooo bunt! Und wie sie alle so lässig die unasphaltierten Straßen entlanglaufen. Aber uff, was sie da alles tragen müssen auf ihrem Kopf, uiuiui – die armen. Wo bleiben denn nur wieder ihre Männer. Typisch, echt…“

 

So sind sie, die Bilder in den Zeitschriften, im Fernsehen, oder auch auf dem einen oder anderen Hilfsorganisationen-Plakat.

Frauen aus entlegensten Teilen der Erde. In ihren bunten Kleidern. Laufen unasphaltierte Straßen entlang. Das kleinste Kind am Rücken gebunden, die größeren laufen nebenher.

Die Blicke in die Kameras, zuweilen misstrauisch, zuweilen schüchtern auf den Boden gerichtet.

Und dennoch, so scheint es, erzählen sie bereitwillig über ihr Leben in solch „ärmlichen“ Verhältnissen. Während ein (oft) weißer Mann eifrig Stift und Papier zückt, interessiert zuhört, sich derweil Notizen macht, diese später in seinen Computer tippt – und per einen Klick den Einblick in eine fremde und exotische Welt gewährt.

Von großer Armut ist in diesen Texten dann die Rede. Und von Ungleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Und fast immer schwingt eine Art Mitleid mit. Mitleid für die „armen“ unterdrückten Frauen. Die sich nicht zeigen dürfen, wenn „Fremde“ ins Dorf kommen.
Die sich verschleiern müssen.
Die ihre Kinder und Männer vorschicken müssen, die an ihrer statt mit den Fremden sprechen, verhandeln.

Patriarchale Strukturen halt.

Wir machen das Buch zu, legen die Zeitung zusammen, schalten den Fernseher aus.
Schauen aus dem Fenster.
Sehen einen „fremdländisch“ aussehenden Mann vorbeilaufen. Mit seiner Frau im Kopftuch, die hinter ihm die Einkaufstüten trägt.
Und sehen uns bestätigt.
Arme, unterdrückte ausländische Frau. Böser, machohafter ausländischer Mann.

Die unterdrückte fremde Frau - wer hat's erfunden?

Nun.
Das ist sind unsere Bilder im Kopf, unsere Wahrnehmung über Frauen aus anderen Kulturen. Vorstellungen, die wir hierzulande über die Stellung von Frauen aus anderswo haben.

Heute will ich dich einladen, dich folgendes zu fragen: Woher haben wir solche Vorstellungen? Ja, die Reporter_innen haben es mit ihren eigenen Augen gesehen. Aber mit welchen Augen haben sie es gesehen? Waren diese „Augen“ neutral? Objektiv? Oder vielleicht doch auf die eine oder andere Weise vorgeprägt? 

 

Die Vorstellungen von Geschlechterungleicheit zwischen Männern und Frauen in anderen Gesellschaften, irgendwo hat es ja angefangen. Und oftmals tatsächlich mit den ersten Reisenden, Händlern und Forschern.

Hierzu eine einfache Frage:
Als im 19. Jahrhundert die Forschungsreisen in westlichen Kulturen zunahmen, wer gehörte denn zu den Forschenden? Meistens waren es Forscher. Also Männer.

Als solche hatten sie kaum Gelegenheit, Einblicke in jene Bereiche zu erhalten, die den Frauen vorgesehen waren. Denn es stimmt – die Unterteilung in männlich geprägte und weiblich geprägte gesellschaftliche Bereiche kann man in vielen Gesellschaften beobachten.

Nur dass wir aus „westlichen“ Gesellschaften bei einer solchen Beobachtung meist zwei Fehler machen:

  1. Wir projizieren unsere eigenen Vorstellungen über „wichtige“ und „unwichtige“ gesellschaftlichen Bereiche auf fremde Gesellschaften
  2. Wir beginnen, das, was wir vorfinden, nach unseren europäischen Maßstäben zu bewerten

Und das passierte eben den ersten Forschern immer wieder: Sie stellten fremde Frauen lange Zeit aus ihrer, männlichen, Sicht dar. Sie sahen, dass viele wichtige Ämter in den Gesellschaften – sei es als Häuptling, als Heiler, als Kriegsführer – von Männern bekleidet wurden. Und schlossen daraus, dass Frauen wohl keine so hohe Stellung in den Gesellschaften inne haben.

Doch wer sagt, dass diese Funktionen „wichtig“ waren? Wer sagt, dass die Aufgaben der Frauen weniger wichtig, weniger „wertvoll“ für die Gesellschaft waren? Das war der sogenannte ethnozentrische Blick des Forschers.

Ethnologinnen und die Korrektur des Frauenbildes

Erst mit den ersten Forscherinnen wandelte sich langsam das Bild der fremden Frauen.
Denn sie hatten als Frauen Zugang zu den „weiblichen“ Sphären in den untersuchten Gesellschaften bekommen.
Und plötzlich stellte es sich heraus, dass Frauen keineswegs ein unterdrücktes, von Männern diktiertes Leben hinter verschlossenen Türen und Zeltvorhängen führten.
Sondern, dass sie sehr wohl Einfluss auf und einen bisweilen sehr hohen Stellungswert in ihrer Gesellschaft haben.

In vielen Gesellschaften haben Frauen oftmals das alleinige und das letzte Wort, was die Kindererziehung oder den Bereich des Hauses angeht. Sie sind tonangebend, was die Pflege von sozialen Kontakten angeht. Oder bekleiden religiöse Ämter. Oder sind die Eigentümerinnen von Herden oder den Häusern/Zelten.

Die Autorinnen Claudia Kalka und Sabine Klocke-Daffa stellen in ihrem Sammelband „Weiblich – männlich – anders?“ verschiedene Gesellschaften vor, und siehe da, plötzlich erfährst du, dass der Mann zwar als der Haupternährer der Familie zählt und das Geld nach Hause bringt, dieses aber komplett an seine Frau aushändigen muss, da sie die gesamten Ausgaben verwaltet.

Indian Woman. Pixabay
©Pixabay

Einblicke in die Lebenswelten der "unterdrückten" Frauen am Beispiel der Nama (Namibia)

Bei den Nama im heutigen Namibia ist es so, dass auch unverheiratete oder geschiedene Frauen eine eigene Farm betreiben können, während Single-Männer im Haus der Eltern leben. Und das hat mit der besonderen sozialen Bedeutung der Nama-Frauen zu tun, schreibt Sabine Klocke-Daffa. Sie sind „der Schlüssel zu einem eigenen Haushalt und damit zu einer eigenen, unabhängigen Existenz“.

Diese besondere Stellung der Frauen kommt auch daher, weil sie als „Lebensspenderinnen“ angesehen werden – denn sie gebären Kinder und sorgen damit für den Forterhalt der Gesellschaft.

Die Ehe gilt als Voraussetzung für das Erwachsenwerden. Vor Allem für die Männer. Denn erst durch die Heirat wird ein Mann sozusagen zu einer „ganzen Person“ und kann erst dann bestimmte soziale, politische oder rituelle Positionen bekleiden.

©Luca Galuzzi 2004

Die Sache mit den bunten aber armen Frauen in den Medien...

Wenn du also das nächste Mal wie Sybille in einer Zeitschrift blätterst, dir dir eine Reportage anschaust, oder an einem Hilfsorganisationen-Plakat vorbeiläufst, in denen dich bunte, exotische, fremde Frauen schüchtern anlächeln und von ihrem Alltag erzählen, dann stelle dir ruhig mal auch solche Fragen: 

  •  Wer hat den Artikel geschrieben? Die Fotos gemacht? Den Film gedreht? Ein Mann oder eine Frau? Denn je nachdem kann es sein, dass er/sie nur zu einem bestimmten Punkt Zugang zur interviewten Person hat und daher nur einen Teil der Wirklichkeit zu sehen bekommt.
  • Was erfährt man über die Ethnie? Der Kontext ist immer wichtig, denn nur indem man das große Ganze betrachtet, kann man Handlungen, Ansichten oder Denkweisen der anderen Gesellschaften verstehen.
  • Wie werden Frauen und Männer beschrieben? Wie schreibt der/die Reporter_in über sie? Erkennst du daraus vielleicht eher etwas über den Schreibenden als über die Beschriebenen?

 

 

 

(Quelle: Kalka & Klocke Daffa (Hg.), 2006.Weiblich, männlich, anders? Geschlechterbeziehungen im Kulturvergleich. Waxmann Verlag)