Die Flüchtlingsthematik. Sie ist nicht wegzudenken. In 2015 nicht – und sicherlich auch nicht in den nächsten. Aber neu ist dieses Thema ja auch nicht, wenn man allein auf die letzten Jahrzehnte in Deutschland blickt. Doch woher kommt diese Abwehrhaltung gegenüber den Geflüchteten? Ist es „normal“, Angst vor dem „Fremden“ zu haben? Und wie soll man mit diesen „fremden“ Menschen, oder mit dieser Angst vor ihnen, umgehen? Um die aktuelle Berichterstattung rund um die neuen Geflüchteten-Bewegungen auch um eine ethnologische Stimme zu bereichern, sprach ich mit dem Ethnologie-Professor Karl-Heinz Kohl. Das Interview erschien erstmals im Wiesbadener Stadtmagazin Sensor (2015).
Herr Kohl, reagiert der Mensch auf ihm Unbekanntes immer mit Angst und Abwehr?
PROF. DR. KARL-HEINZ KOHL: Das ist schwer zu sagen. Es gibt zwei Pole, die ich einmal als „Abwehr“ und „Verlangen“ bezeichnet habe: Der eine Pol ist der einer totalen Ablehnung des Fremden und der andere Pol geht mehr dahin, dass man in dem Anderen, im Fremden das zu finden erhofft, was die eigene Kultur oder Gesellschaft dem Einzelnen verweigert. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich in aller Regel auch die historischen Diskurse über außereuropäische Gesellschaften. Diese sogenannte „ethnozentrische“ Grundhaltung, dass man nämlich auf die Konfrontation mit dem Anderen zunächst mal mit Abgrenzung reagiert, finden Sie aber genauso in nicht-europäischen Gesellschaften.

Die negativen Reaktionen auf die Zuwanderung von Flüchtlingen aus Syrien & Co haben in diesem Jahr deutlich zugenommen. Wovor haben die Gegner eigentlich solche Angst?
KOHL: Es gibt eine Studie des amerikanischen Anthropologen Robert ARDREY über das Territorialprinzip, das hier, glaube ich, auch eine Rolle spielt. Wir können den Mechanismus täglich beobachten, zum Beispiel in einem Eisenbahnabteil: Sie kommen in das Abteil und in dem sitzt bereits jemand. Sie grüßen und fragen höflich: „Ist bei Ihnen noch was frei?“ Das heißt der Mensch, der in dem Abteil sitzt, hat bereits dadurch, dass er darin sitzt, sein Territorium abgesteckt. Und wenn Sie jetzt in sein Territorium kommen, empfindet er das zunächst mal als störend. Doch auch Sie haben eben das Gefühl, Sie würden ihn in seiner Privatsphäre belästigen, obwohl Sie ja genauso wie er Ihre Fahrkarte gekauft haben.
Derjenige also, der zunächst allein im Abteil sitzt, hat das Gefühl: „Das ist jetzt mein Raum.“ Und auch Sie haben beim Eintreten das Gefühl: „Das ist sein Raum“. Dann fragen sie ihn, kommunizieren mit ihm und nehmen Platz. Von nun teilen Sie sich gemeinsam denselben Raum. Kommt ein Dritter und will ebenfalls Platz nehmen, dann wird das jetzt von Ihnen beiden eigentlich als störend empfunden. Sie entwickeln also in dem Moment, in dem der Dritte kommt, mit einer Ihnen bis vor kurzem noch wildfremden Person ein „Wir“-Gefühl gegenüber dem als Eindringling empfundenen Dritten.
Wie erklären Sie sich diese Reaktion?
KOHL: Das ist offensichtlich eine tief verwurzelte, wenn Sie so wollen tendenziell instinktmäßige Reaktion. Hat eine Gruppe von einem Raum erst einmal Besitz ergriffen, nimmt sie alle neu Hinzukommenden als Störfaktor und Bedrohung wahr. Das Territorialprinzip ist gerade in kleineren Gemeinden, in sogenannten Face-to-Face-Communities , besonders stark ausgeprägt. Sie finden es auch bei uns vor allem in den Gegenden, in denen es bisher kaum Ausländer oder Migranten gab.
Ist diese Abwehr-Haltung also „normal“?
KOHL: Wenn wir mit den Begriffen „normal“ und „nicht normal“ operieren wollten, dann wäre die „normale“ Verhaltensweise gegenüber dem gegenwärtigen Flüchtlingsstrom tatsächlich erst einmal die, dass man die Grenzen dicht macht. Genau wie das jetzt in Ungarn der Fall ist. Doch was heißt schon „normal“?
Wie erklären Sie sich diese, sagen wir mal „Anomalie“ der deutschen Willkommenskultur?
KOHL: Was bei uns heute in Deutschland vorherrscht, und das ist interessant, ist die signifikante Umkehrung – die Willkommenskultur, die sich hier entwickelt hat. In Deutschland, speziell in der BRD, gibt es eine lange Tradition, was die Aufnahme von Flüchtlingen anbelangt. Nach 1945 waren es zunächst die „Heimatvertriebenen“, dann ging es weiter mit den Flüchtlingen aus der DDR. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen die Aussiedler aus dem Osten. Doch zuvor schon hatten wir ganze Migrantenfamilien aus Jugoslawien, Griechenland, Italien, Spanien und der Türkei, die als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Alle haben sie ihre Familiengeschichten über das Ankommen und über das Sich-nieder-lassen. Und auch sie sind alle Teil unserer heutigen Willkommenskultur. Ich könnte mir vorstellen, dass solche familiären Überlieferungen bei Identifikation mit dem Schicksal der Flüchtlinge eine Rolle spielen. Getragen wird die Willkommenskultur zu einem großen Teil aber auch von Leuten, die die Ankunft der Flüchtlinge weniger als Bedrohung empfinden, weil sie wohlhabender sind und sich nicht davor fürchten müssen, mit ihnen um Arbeitsplätze zu konkurrieren. Denn bis auch die in die Berufe der Mittelschicht vordringen werden, dürfte es noch viele Jahre dauern. Bedroht in ihrer Existenz fühlen sich vor allem die Menschen mit niedrigerem Einkommen. Und die haben eben Angst, in irgendeiner Weise verdrängt zu werden.
Haben auch die Befürworter der Asylsuchenden Vorurteile?
KOHL: Ja, man könnte auch die Willkommenskultur als eine Vorurteilskultur kritisieren, wenn man es will. Natürlich wäre das ungerecht und man sollte man es auch nicht, aber trotzdem: Man könnte sich ja die Frage stellen – aber ich würde es sehr vorsichtig formulieren – ob die ausführlichen Presseberichterstattungen über die Gräueltaten im Bereich des Islamischen Staates nicht eine Überzeichnung des Terrors darstellen und auch eine der Ursachen dafür ist, dass die syrischen Flüchtlinge bei uns so freundlich aufgenommen werden. Der Islamische Staat passt eben allzu gut in das gängige Feindbild des „radikalen Islam“. Man könnte sich fragen, ob der Umstand, dass diese Menschen vor diesem „Islam“ flüchten und bei uns Schutz suchen, auch als eine Bestätigung der westlichen Werte und Normen, mithin unserer eigenen Überlegenheit angesehen wird.
